Gerald Hüther, Professor für Neurobiologe und Sachbuch-Autor
«Die heutige Wirtschaftswelt basiert auf Wachstum statt auf Ethik – dadurch werden Menschen gefördert, die funktionieren, aber nicht mehr sie selbst sind», sagt Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen. Der 62-Jährige kritisiert, dass wir uns von der Unterhaltungsindustrie verführen lassen und damit nicht nur unser eigenes Hirn ruinieren, sondern auch das unserer Kinder.
Herr Hüther, wer oder was wären Sie gerne geworden?
GERALD HÜTHER: Wie alle Jungs wollte ich Lokführer werden, später Zoodirektor. Als ich in die kritische Phase kam, in der die ersten Festlegungen getroffen werden, stand für mich die Biologie im Vordergrund. Ich hatte riesiges Glück, dass meine Eltern und die anderen Erwachsenen in der Großfamilie, in der ich aufwuchs, mir viel Freiraum gelassen haben. So konnte ich meine Talente und Begabungen entdecken, ohne den Erwartungen anderer ausgesetzt zu sein. Ich musste niemandem gefallen, es niemandem recht machen.
Heisst das, die Eltern sollten sich nicht zu sehr um ihre Kinder kümmern?
Heute wird zu viel gefördert, begleitet und optimiert. Damit nehmen wir den Kindern die Chance, sich selbst zu befragen, herauszufinden, was sie selber wollen. Ich durfte viel Zeit in Kinder- und Jugendgruppen verbringen, in Vereinen und mit Handwerkern. So fand ich heraus, was mich anzieht. Das ist heute nur noch wenigen Kindern vergönnt.
Warum?
Weil Eltern ihre eigenen Sehnsüchte, ihr ungelebtes Leben auf ihre Kinder projizieren. Man kann das Hirn im Laufe seiner eigenen Entwicklung ruinieren und das seiner Kinder obendrein. Kinder versuchen immer, die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen – selbst wenn sie dagegen revoltieren, sind sie nicht weniger durch sie bestimmt. In beiden Fällen leben sie das Leben ihrer Eltern weiter. Etwas Eigenes aufzubauen gelingt nur, wenn wir früh die Erfahrung machen, dass wir die Gestalter unseres Lebens sind. Dafür braucht es Gelegenheiten, Freiräume ohne Förderung und Programm, auch ohne TV-Programm. Wird die Gestaltungskraft nicht entwickelt, bleibt nur die Hoffnung auf Veränderungen von außen. Wer sich nicht als Autor seines Lebens wahrnimmt, ist den Verführungen der Unterhaltungsindustrie wehrlos ausgesetzt.
Woran denken Sie konkret?
In der freien Natur finden wir wunderbare Gestaltungsräume. Die meisten Spielzeuge in unserer Konsumgesellschaft dagegen rauben uns sämtliche Gestaltungsmöglichkeiten, sie reduzieren uns auf die Rolle der Ausführenden. Die Unterhaltungsindustrie verführt uns dazu, ihr permanent Aufmerksamkeit zu schenken, indem sie Banales für bedeutsam und aufregend erklärt. Weil sie viel zu früh Konsumenten werden, verlieren Kinder die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.
Dieses Problem haben auch Erwachsene. Jedes neu eintreffende Mail, jeder Anruf wirkt attraktiver auf uns Büroarbeiter als die Vertiefung in anstrengende Denkarbeit.
Solange Sie sich auf jedes neue Mail stürzen, sind Sie ein Bedürftiger, getrieben von einem ungestillten Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Wenn man in sich ruht, ist man für all die blinkende Ablenkung weniger empfänglich. Wer aber auf jeden leuchtenden Knopf, auf jede neue Nachricht springt, der sollte sich fragen: Wie war das in meiner Kindheit und Schulzeit? Fand ich da genug Anerkennung und Zugehörigkeit? Wir sollten nicht über Smartphones, Facebook oder Gratiszeitungen schimpfen, die uns zerstreuen, sondern uns mit der Frage auseinandersetzen, was wir tun können, damit weniger Menschen mit dem Gefühl rumlaufen, sie seien nichts wert. Dagegen kann man etwas tun, auch in der Arbeitswelt. Wir müssen Bedingungen dafür schaffen, dass mehr Menschen einer Tätigkeit nachgehen können, die sie wirklich interessiert.
Die Erwartung, sich im Beruf verwirklichen zu können, ist ein relativ neues Phänomen.
Frühere Generationen kannten übergeordnete Instanzen, denen sie ihr Ego unterordneten. Wer religiös war, versuchte, gottgefällig zu leben, andere fühlten sich dem Arbeitgeber verpflichtet. Heute dominiert die nüchterne Lohnarbeit. Das ist eine ungesunde Entwicklung. Jeder hat das Recht, darauf zu pochen, dass er nebst Geld auch Erfüllung bekommt. Das ist dann der Fall, wenn er durch seine Tätigkeit zu einer Gemeinschaft gehört und wenn er dort in Freiheit und Verbundenheit zeigen kann, was er drauf hat. So erklärt sich auch der Pensionierungsschock: Man wird zwar von der Arbeitspflicht befreit, schwerer wiegt aber bei den Meisten der Verlust der Zugehörigkeit.
Sie kritisierten kürzlich in einem Interview, dass Unternehmen «Dressurmethoden» anwenden, um Fachidioten auszubilden, statt auch Querdenkern und Quereinsteigern eine Chance zu geben.
Das gilt für die auf reibungslose Effizienz getrimmten Konzerne. Aber im Mittelstand, der in der Schweiz und in Deutschland die Wirtschaft prägt, geht es unglaublich bunt zu und her, da sehe ich keine Stromlinienförmigkeit. Machen wir uns nichts vor: Effizienz und Massenproduktion, das können die Chinesen besser als wir. Unsere Chance besteht darin, innovativ zu sein und Neues zu erfinden. Dafür braucht jeder Arbeitgeber Mitarbeiter, die ihm etwas schenken, was er nicht gegen Bezahlung einfordern kann: die Lust am Nachdenken, die Freude an der Gestaltung. Und echte Freundlichkeit. Ein aufgesetztes Lächeln kann man antrainieren, echte Freundlichkeit entsteht nur, wenn ich in Kontakt bin mit meinen Talenten. Dies wiederum gelingt leichter, wenn Eltern ihren Kindern erlauben, eigene Wege zu gehen, statt vor lauter Ängstlichkeit darauf zu beharren, dass sie etwas Rechtes lernen, sprich: sich frühzeitig in ein Berufsschema zwängen lassen.
«Wir sind alle nur Kümmerversionen dessen, was wir sein könnten», lautet eine Ihrer Überzeugungen. Liegt das daran, dass wir uns zu früh dem Arbeitsmarkt anpassen?
Den Arbeitsmarkt gibt es nicht, es gibt nur unterschiedliche Unternehmen und unterschiedliche Ängste. Bei den Unternehmen verändert sich vieles. Jene, die zur Erreichung kurzfristiger Ziele auf Peitsche und Incentives setzen, gibt es noch immer. Ich sehe aber auch viele, die ganz ernsthaft auf Beziehungskultur setzen. Unternehmen, in denen die Mitarbeiter ihren eigenen Lohn mitbestimmen, in denen Führungskräfte einen Teil der Boni an ihr Team abgeben. Ich sammle solche Beispiele und publiziere sie auf kulturwandel.org. Diese neue Arbeitswelt wächst rasch, die Unternehmen, die dazugehören, haben keine Schwierigkeiten, neue Talente zu finden.
Was raten Sie jemandem, der 20 Jahre in einem traditionell geführten Großunternehmen Karriere gemacht hat und trotz Unwohlsein den Absprung nicht schafft, weil er sich an die Annehmlichkeiten gewöhnt hat?
Er soll sein Standbein vorerst beibehalten und sich ein Spielbein aufbauen, mit dem er kleine Schritte in eine neue Richtung machen kann. Mit der Zeit wird sich der Radius vergrößern. Oft findet man auch im angestammten Beschäftigungsfeld Gestaltungsspielräume. Oder man findet ein neues Feld, in dem man die erworbenen Fähigkeiten besser zur Entfaltung bringen kann. Das verspricht mehr Erfolg als der radikale Bruch. Konkret: Wenn ein Jurist genug davon hat, den Amtsschimmel zu reiten, kann er sich beim WWF oder bei Greenpeace engagieren – da hat er bessere Erfolgschancen als wenn er sich als Fischer in der Südsee eine neue Existenz aufzubauen versucht.
Sie unterstützen die Bewegung Millionways und die gleichnamige Stiftung. Welche Ziele verfolgen Sie damit?
Wir leben alle so dahin, lassen uns leben und treiben, stellen aber die entscheidenden Fragen nicht, die da lauten: Was will ich wirklich? Warum will ich hier unterwegs sein? Was kann ich bewegen? Diese elementaren Fragen liegen oft tief verborgen, zugeschüttet mit Alltagsmüll, verdrängt durch Geschäftigkeit. Die heutige Wirtschaftswelt basiert meist auf Wachstum statt auf Ethik – dadurch werden Menschen gefördert, die funktionieren, aber nicht mehr sie selbst sind. Wir werden belohnt dafür, unachtsam mit uns und unserem Umfeld zu sein. Mit der Bewegung Millionways wollen wir zu einer Gesellschaft beitragen, in der es normal ist, das Potenzial jedes Einzelnen zu entdecken, zu fördern und auszuleben. Bislang ging das nur, wenn Einzelne überdurchschnittlich viel Kraft, Mut und Energie hatten – denn geholfen wurde einem selten. Oft wurde man sogar entmutigt und entfernte sich von den eigenen Träumen aus rationalen Beweggründen und scheinbaren Zwängen.
Wie wollen Sie das ändern?
Indem wir jeden Einzelnen dazu befähigen, ein klares Bewusstsein seiner Talente und Begabungen zu entwickeln. Dann braucht es die Bereitschaft von Arbeitgebern, solche selbstbewusste Berufsleute auch einzustellen. Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, als arbeitender Mensch zu funktionieren, sondern als lebender Mensch zu existieren. Millionways fungiert als Anlaufstelle für Menschen, die ihr wahres Potenzial erkannt haben oder erkennen wollen – und für Unternehmen, die auf solche Mitarbeiter setzen. In gewisser Weise holen wir nach, was die Schule versäumt, weil sie noch immer mehr wie eine Erbsensortieranlage funktioniert.
Machen Sie es sich mit dieser pauschalen Kritik an der Schule nicht etwas zu einfach?
Die Schule wird von jeder Gesellschaft so betrieben, wie es zur Erhaltung dieser Gesellschaft erforderlich ist. Im Fabrikzeitalter brauchte es Pflichterfüller, die auf Belohnung und Bestrafung reagierten. Heute braucht es Menschen, die ihr Potenzial nicht entfalten konnten und deshalb zum bedürftigen Konsumenten taugen. So gesehen macht die Schule alles richtig. Als Hirnforscher, der sich fragt, was ein Mensch alles sein könnte, bin ich aber nicht glücklich über unser Schulsystem. Es macht viele unserer Kinder zu Optimierern und Schnäppchenjägern, deren Expertise darin besteht, mit wenig Aufwand gut über die Runde zu kommen. Das prädestiniert sie dazu, billig Schrott zu erstehen und auf den Weg der kollektiven Verblödung einzubiegen.
Welche Alternativen schlagen Sie vor?
Es gibt sie schon, die anderen Schulen, wie die Initiative «Schulen der Zukunft» zeigt. Ich war gerade auf einem Kongress mit 1200 Teilnehmern in Zürich. Da gibt es jahrgangsübergreifend Lernbüros statt Frontalunterricht, die Schüler legen selber einen Plan fest, wie sie sich durch eine Sequenz von Aufgaben durcharbeiten. Sie holen sich Hilfe bei älteren Mitschülern und melden sich zur Prüfung an, wenn sie bereit sind. Es gibt Fächer wie Verantwortung, wo sich Kinder um Senioren oder Zootiere kümmern. Wenn alle Schulen so funktionieren würden, müssten 90 Prozent der Läden an der Zürcher Bahnhofstrasse mangels Nachfrage schließen – und nicht nur dort.
Sie rufen also zum Konsumverzicht auf in eine Zeit, in der uns alle Ökonomen predigen, dass wir dringend weiteres Wachstum brauchen?
Blinder Konsum, der die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in Kauf nimmt, ist keine Lösung, sondern wesentlicher Bestandteil unseres Problems. Massenproduktion ist eine Ersatzbefriedigung einer Gesellschaft in großer Identitätskrise. Aus der Neurobiologie wissen wir: Wenn wir die Beziehungen verbessern zwischen den Nervenzellen, sprich für bessere Konnektivität sorgen, dann erreichen wir mehr mit geringerem Ressourcenaufwand. Das ist in meinen Augen auf die Wirtschaft übertragbar. Der Wettbewerb in der heutigen Form richtet uns auf Dauer zugrunde. Das Zeitalter der Einzelkämpfer neigt sich dem Ende zu, wir sollten lernen, uns besser zu verknüpfen und mehr zu teilen. Jede andere Haltung ist so sinnlos, als würde die Leber mit Milz und Lunge darum kämpfen, wer die Macht über den Körper hat.
Sie erklären selber in Ihrem Buch «Männer, das schwache Geschlecht», dass Männer meistens den Wettbewerb suchen, sich an äußerem Erfolg orientieren, um so das Gefühl der Bedeutsamkeit zu bekommen. Das sind schwierige Voraussetzungen für mehr Kooperation.
Das stimmt, Männer versuchen – mehr als Frauen – sich zu beweisen und allen zu zeigen, was sie können. Wenn ein Mann sich dann noch minderwertig fühlt, ist er zu allem fähig – im Guten wie im Bösen. Van Gogh und Hitler wären undenkbar mit intaktem Selbstwertgefühl. Wenn es stimmt, dass wir als Gesellschaft an einem Wendepunkt stehen und die Zeit der Einzelkämpfer vorbei ist, dann ist es eminent wichtig, dass junge Menschen früh die Erfahrung machen, per se bedeutsam zu sein, unabhängig ihres Leistungsausweises. Auf dieser Basis werden Innovation und Kooperation möglich. Wer getrieben ist vom Geltungsdrang, handelt langfristig immer destruktiv.
Wie stark ausgeprägt ist Ihr eigener Geltungsdrang? Neurobiologen sind unglaublich populär geworden, Sie treten als Welterklärer, Medienstar und Bestsellerautor auf und entfernen sich damit ein gutes Stück vom wissenschaftlichen Terrain.
Wenn Wissenschaft nur in reiner Analytik und der Zerlegung des Wissens in immer weitere Bestandteile besteht, entferne ich mich tatsächlich davon. Wir brauchen nicht endlos viele kleine Mosaiksteinchen, sondern Menschen, die das Vorhandene zu einem sinnvollem Gesamtbild zusammenfügen können. Ich bin mehr Synthetiker als Purist. Ich spreche ungern über das Gehirn, ohne den Körper, die Familie, die Gesellschaft einzubeziehen. Ich sehe meine Aufgabe darin, ein Brückenbauer und Ermächtiger zu sein, die großen Linien herauszustreichen. Das 20. Jahrhundert war geprägt durch Konkurrenz und Machbarkeit. Wenn ich das richtig sehe, wird das 21. Jahrhundert im Zeichen der Selbstorganisation und Potenzialentfaltung stehen. Versuchen wir, dafür gute Bedingungen zu schaffen, statt die alten Muster zu zementieren.
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