Unsere Vorfahren waren zufrieden, wenn sie überlebten, wir aber klagen trotz Zeit- und Geldwohlstand über Stress und zu hohe Arbeitsbelastung. Warum machen wir uns das Leben so schwer? Ludwig Hasler, Philosoph und Publizist aus Zollikon, plädiert für einen anderen Blick auf die Arbeit. Und er warnt davor, sich vom paradiesischen Nichtstun Glück zu erhoffen.
Ludwig Hasler, Philosoph und Publizist.
Interview: Mathias Morgenthaler // Foto: zvg
Herr Hasler, arbeiten Sie gern?
Gibt es was Besseres zu tun?
Angenommen, Sie hätten finanziell ausgesorgt, würden Sie weiterhin der gleichen Arbeit nachgehen oder alles ganz anders machen?
Mit meiner Arbeit bin ich in meinem Element. Wie sollte ich da weg?
Arbeit ist – theologisch betrachtet – eine Strafe. Empfinden Sie das gelegentlich auch so?
Sicher. Es ist nicht stets das reine Vergnügen, an Essays und Reden zu arbeiten, das wird oft zur Rackerei, ich muss alle Sinne beisammen halten, es braucht Konzentration, Scharfsinn, Fantasie – und enorme Disziplin, eine Kombination, die geübt sein will. Aber empfinde ich das als Strafe? Eher als Preis. Was hätte ich ohne diese Rackerei? Nichts. Ich könnte keinen klaren Gedanken fassen, hätte keinen Humor entwickelt, bekäme null Einladungen, hätte keine Wirkung, begegnete keinen interessanten Leuten, könnte mir keinen anständigen Whiskey leisten.
In der Bibel wird die Arbeit als Strafe für die Sünde im Paradies dargestellt. «Im Schweiße seines Angesichtes…» soll der Sünder schuften.
Gott sei Dank, kann ich nur sagen. Wären Sie vielleicht lieber noch drin im Paradies? Mit Vollpension, Sandstrand, Sonne, Palmen, gebratenen Vögeln, immer, immer, immer! Der reine Horror. Eva biss in den Apfel, weil sie das paradiesische Einerlei satt hatte, sie sehnte sich nach Drama und Leidenschaft, nach Freiheit. Das haben wir jetzt, aber Freiheit gibt es nicht gratis, die muss man mühsam erstreiten, ist ihrer nie sicher, Freiheit bleibt ein Wagnis, Arbeit gegen Widerstand, doch ohne Widerstand kein Wachstum… Typisch Menschenleben: frei, spannend, tätig.
Das klingt verdächtig nach Sisyphus.
Wir sind die späten Enkel des Sisyphus. Er muss, als Strafe der Götter, seinen Stein den Hang hinauf rollen, oben kommt er nie an, der Stein fällt zurück. Was ist daran so schlimm? Wollen Sie lieber auf dem Gipfel ankommen? Und was tun Sie dann da oben? Die Beine baumeln lassen? Den ganzen Rest des Lebens? Trostlos. Schlimm ist nicht, dass wir stets neu ansetzen, schlimm wäre es, wir täten das jedesmal gleich. Bei Albert Camus steht: «Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen.» Glücklich? Weil er den Stein zu seinem Stein macht, die Arbeit als sein Leben betrachtet, sich zum Autor seiner Arbeit macht. Der glückliche Rolling Stones wuchtet seinen Stein täglich neu hinan, raffinierter, schlauer, besser.
Dieses Verständnis von Arbeit scheint nicht sehr verbreitet zu sein.
Fragen Sie mal bei Behinderten nach. Ich bin oft in Werkstätten für Behinderte. Die wollen unbedingt etwas tun, die wollen nicht ausgehalten werden, wollen sich nicht ein schönes Leben ohne Arbeit machen, sie wollen partout arbeiten, Arbeit gibt ihnen Halt, eine Struktur – und so etwas wie Sinn, nämlich nicht für sich solo über die Runden zu kommen, sondern sich nützlich zu machen, für andere, für die Gesellschaft. Das ist, seit dem 18. Jahrhundert, das Prinzip bürgerlicher Existenz: dass jeder sich nützlich mache auf seine Weise – im Unterschied zum Adel, der von Geburt etwas galt, ohne Leistung. Insofern greift die Idee eines leistungsfreien Grundeinkommens zurück auf Feudalzeiten, die übrigens nicht auffällig lustig waren, an Höfen herrschte fürchterliche Langeweile, eine verzweifelte Unrast auf der Suche nach Unterhaltung.
Könnte es sein, dass der Sinn dieses Sich-nützlich-machens am Arbeitsplatz nicht mehr so richtig erlebbar ist?
Wahrscheinlich. Es gibt ja die hübsche Legende der drei mittelalterlichen Steinhauer. Jeder wird gefragt: Was machst du da? Ich haue Steine, sagt der erste. Ich verdiene hier mein Geld, der zweite. Der dritte aber sagt: Ich baue hier mit an der wunderbaren neuen Kathedrale unserer Stadt. So schmeckt Sinn. Es muss nicht die Kathedrale sein, etwas unmittelbar Einleuchtendes schon, etwas, das größer ist als ich, etwas, worauf ich stolz sein kann, am besten ein Werk, zum Beispiel der HB Zürich, Durchmesserlinie, die macht offenkundig Sinn, darauf sind die Bauarbeiter stolz.
Warum gelingt es vielen Angestellten nicht mehr, stolz zu sein auf ihre Tätigkeit?
In arbeitsteiligen Organisationen läuft Arbeit stets spezialisierter – und effizienter. Was im Zweifelsfall bedeutet: Logistik schlägt Sinnplausibilität. Hauptsache, just in time. Wie bei der Organisation unserer Städte, da regierten über Jahrzehnte Verkehrsplaner über Stadtplaner, Hauptsache, der Verkehr rollte. In grösseren Unternehmen führt das leicht zu perfekt designten, unpersönlichen Verhältnissen, in denen sich Angestellte wie Elementarteilchen vorkommen. Weil sie sich kaum wahrgenommen fühlen, schaffen sie es auch nicht, sich zum Subjekt ihrer Tätigkeit zu machen.
Noch nie war unser Wohlstandsniveau so hoch, hatten wir so angenehme Lebensumstände. Viele Berufstätige beschweren sich allerdings über zu viel Stress und Druck am Arbeitsplatz. Ist das bloß ein Klagen auf hohem Niveau oder liegt tatsächlich so viel im Argen in unserer heutigen Arbeitswelt?
Es wird viel gemeckert über Stress und Tempo. Entschleunigung! Zeit für sich! Ich staune. Natürlich ist die Moderne eine einzige Maschine der Beschleunigung. Aber raubt sie uns Zeit? Sie bringt uns einen einmaligen Zeitwohlstand: Mit 40 fielen unseren Vorfahren die Zähne aus – wir rechnen mit noch einmal 40 gesunden Jahren. Mit bezahlten Ferien plus Pension. Autonomer Staubsauger, Waschmaschine, Internet ersparen uns jede Menge Zeit. S-Bahn, Flugzeug dito. Was machen wir mit dieser geschenkten Zeit? Wir verplempern sie, etwa in Social Media. Und wir stressen uns selbst, indem wir unser Privatleben zum harten Arbeitsplatz verwandeln: mit Beziehungsarbeit, Networking, Kulturarbeit etc.
Sind wir am Ende gar nicht begabt zum Nichtstun?
Wir können nichts anfangen mit der leeren Zeit: beim Warten im Airport, am Feierabend. Leere Zeit lassen wir sofort auffüllen, durch TV, Mails und Telefon. Gleichzeitig sehnen wir uns romantisch nach dem verlangsamten Leben des Bauern vor 200 Jahren, der mittags im Weizenfeld sein Schläfchen hielt, und blenden aus, dass er abends mit der Grossfamilie ein halbes Brot teilte und wartete, bis die Kerze abgebrannt war. Überdies tut es Menschen gar nicht gut, lange auszuspannen, siehe Weihnachten, siehe Ferienzeit: Da rasten viele aus, weil sie nichts zu tun haben als Bier trinken und Schnitzel essen.
Heißt das, wir müssen unsere Erwartungen korrigieren?
Sicher. Unsere Vorfahren waren zufrieden, wenn sie überlebten. Weitergehende Bedürfnisse richteten sie ans Jenseits. Wir aber wollen den Himmel jetzt. Wir wollen das perfekte Leben, keimfrei, widerspruchslos. Das ist der sicherste Weg, unglücklich zu werden. Wir sind nicht auf dem Gipfel der Geschichte angekommen, wir kraxeln weiter – Sisyphus! – am irdischen Problemberg. Konflikte wiederholen sich, Probleme verschärfen sich: Ernährung, Energie, Wasser, Klima, Migration… Die Arbeit geht uns nicht aus. Da wird, wer nur widerwillig arbeitet, leicht unglücklich.
Weitere Interviews mit Querdenkern und Unternehmerinnen auf www.beruf-berufung.ch
Das Buch zum Thema: www.aussteigen-umsteigen.ch